Interview 1988Design Report Magazin Nr 7, 1988
Fabian Wurm Er gehört zu den bedeutendsten Plakat-Künstlern der Bundesrepublik. Er arbeitet als Professor für Malerei an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Er sieht sich jener Richtung zwischen Konkreter Kunst und Op-Art verpflichtet, die Max Bense in einem Text einmal so charakterisiert hat: »Keine Expression und keine Impression, nur das Auge voll Bewußtsein und die Hand voll Bewußtsein, das ist alles; das ist der Grund der Glätte und der Genauigkeit, der Grund des Verharrens und des Schweigens auf Mavigniers Bildern.«
Und dabei hatte Almir da Silva Mavignier 1945 in Brasilien eine konventionelle Akademie besucht, seine Malerei aber war alles andere als konventionell: »Ich war einer der ersten abstrakten Maler in Rio«, kann er heute sagen. 1951 ging Mavignier nach Paris und kam dort mit dem europäischen Konstruktivismus und seiner Weiterentwicklung, der Konkreten Kunst in Verbindung. Ab 1953 besuchte er die berühmte Hochschule für Gestaltung in Ulm. Er studierte »Visuelle Kommunikation«, Malerei wurde in Ulm offiziell nicht gelehrt. Kunst war tabu. Und doch »wäre es ein interessantes Projekt«, sagt Mavignier, »die Kunst innerhalb der HfG Ulm zu verfolgen. « Doch das Tabu hat die Ulmer Hochschule überlebt: Die große Ulm-Retrospektive, die im vergangenen Jahr in Berlin und anschließend in Paris ZU sehen war, hat die Malerei nicht gezeigt - verdrängt wie schon damals. »Eine hygienische Ausstellung«, sagt Mavignier. Im Gespräch mit dem »Design-Report« hat Mavignier den wechselseitigen Einfluß brasilianischer Malerei und europäischer Konkreter Kunst erläutert und darüber hinaus die alten Ulmer Tabus benannt: »Man konnte in Ulm nicht über Brasilia reden - ebensowenig wie über Malerei.« Wir sind in Almir Mavigniers Hamburger Atelier, schauen auf die Hansestadt und sind doch bei einem fernen Thema: Oscar Niemeyers und Lúcio Costas brasilianischer Hauptstadt. Mavignier: Brasilia ist die schönste Stadt, die ich gesehen habe. Mit blauen Himmel, Wolkenformationen und einem Licht, das unerhört intensiv ist. Es ist fantastisch. Und im Vergleich zu São Paulo oder Rio ist Brasilia eine saubere Stadt, mit sehr guter Luft, eine Stadt, die eine gewisse Lebensqualität hat. Ich bin dort 1963, 1969 und 1974 gewesen und kann sagen, daß die Brasilianer, die an Brasilia mitgebaut haben, sehr stolz darauf sind. Sie lieben ihre Stadt. Es ist nicht wahr, daß Brasilia eine leere Stadt ist. Es sind Märchen, daß die Leute sonnabends in Schlangen am Flughafen stehen, um nach Rio zu fliegen. Schon möglich, daß sie mal Schlange stehen, aber Schlangen gibt es an jedem Flughafen. Übrigens einer der schönsten Bauten, den man selten auf Fotos sieht, ist ein Turm. Nur für Tauben. Es gibt wie überall auf der Welt auch in Brasilia Tauben, aber keinen Platz ausschließlich für sie. Und so baute Niemeyer diesen Taubenturm. Sehr schön. Und die Tauben haben ihn angenommen. Er ist bewohnt von Tauben. Ein gutes Design. Design-Report: Nun gab es auch Kritik Verschiedentlich wurde ja geäußert, Brasilia sei Städtebau des Barock auf das 20. Jahrhundert übertragen. Beispielsweise diese monumentale Achse und die symmetrische Anlage der Stadt. Selbstherrlichkeit in Beton, hieß es, vom Gestus vielleicht gar nicht so unterschiedlich zu Versailles. Mavignier: Möglicherweise ist Brasilien zum Monumentalismus verurteilt. Die Fläche ist einfach unendlich groß. Europa hat ganz andere Dimensionen. In jeder Beziehung. So haben die Europäer alle technischen Entwicklungen in einer bestimmten Folge erlebt. Anders die Brasilianer: zum Beispiel leben noch Indianer, die nie ein Fahrrad, aber sehr wohl ein Flugzeug gesehen haben. Europa sieht sich als Quelle der Zivilisation, vergißt gerne die anderen Kulturen und schaut etwas abfällig auf alles, was sich außerhalb seines Horizonts entwickelt. Man muß Brasilia sehen, muß die richtigen Leute treffen und die ganze Sache besichtigen - nicht nur die touristischen Höhepunkte. Man muß den kulturelen Hintergrund kennen. Beispielsweise eine Schule wie die »escola nacional de belas artes« in Rio. Sie war sehr akademisch ausgerichtet - eine Kunstschule -, und so ist es fast ein Wunder, daß eine Gruppe brasilianischer Architekten diese ganze Architektur fertiggebracht hat und damit über Le Corbusier hinausgegangen ist. Design-Report: Sie sind 1953 zu einer ganz anderen Schule gegangen. Zu einer Hochschule, an der Sie, als einer der bekanntesten Vertreter der abstrakten Malerei In Brasilien gar keinen Platz hatten. Sie gingen an die Hochschule für Gestaltung in Ulm. Dort stand die bildende Kunst nicht im Programm. Wieso geht ein Maler eigentlich an eine Schule ohne Malerei? Mavignier: Ich wollte bei Bill lernen. Von einer Hochschule für Gestaltung hatte ich keine rechte Vorstellung. Ulm war mir kein Begriff. Ich wollte zu Max Bill, dem Maler. Design-Report: War Bill in Brasilien bekannt? Mavignier: Nun, ich lebte damals, zu Beginn der fünziger Jahre in Paris. Aber Bill war in Brasilien auBerordentlich bekannt. Ich werde nie vergessen, wie Tomás Maldonado 1949 in Rio zu mir sagte: »Ich habe jetzt den wichtigsten Künstler aus Europa kennengelernt, und das ist Max Bill in der Schweiz!« Kurz bevor ich nach Paris ging, sah ich eine Ausstellung von Max Bill In São Paulo. Es war die Retrospektive seines Werkes im Jahr 1950. Eine große Ausstellung. Ich war sehr beeindruckt. Ich spürte, daß es hinter diesen Bildern eine Ordnung gab, auch wenn ich den Schlüssel dazu nicht gleich fand. 1952 fuhr ich von Paris nach Zürich, um mich mit Mario Pendrosa, dem brasilianischen Kunstkritiker, anläßlich eines internationalen Kongresses zu treffen - und lernte Bill kenBill erzählte: »Die Deutschen haben mich eingeladen, eine Schule aufzubauen. Eine Fortsetzung des Bauhauses soll es werden. Aber ich bin nicht sicher, ob ich das machen soll.« Da habe ich sofort gesagt: »Wenn Sie nach Ulm gehen, dann werde ich auch gehen und mit Ihnen studieren.« Daraufhin entgegnete er zornig: »Ulm ist für eine Generation junger Deutscher, die durch die Nazis von der Kultur entfernt wurden. Und nichts für romantische Künstler, die in Paris leben!« Design-Report: Aber Sie gingen nach Ulm... Mavignier: als Bill nicht da war! Ich las, daß Max Bill den großen Biennale-Preis von São Paulo bekommen habe und sich gerade dort aufhalten würde. Das war die große Gelegenheit für mich. Während Bill in Brasilien war, ging ich nach Ulm. Ich bin sofort hin und habe mich eingeschrieben. Design-Report: Welchen Stellenwert hatte denn nun die Malerei in Ulm? Mavignier: Es gab zwar kein Malverbot, aber ich erinnere mich daran, daß ich trotzdem beim Malen ein Handtuch vor das Schlüsselloch hängte, damit niemand erfahren konnte, daß ich malte, bis ich merkte, daß Josef Albers, Friedrich Vordemberge-Gildewart, Tomás Maldonado und Adolf Zillmann ebenfalls malten. Ulm war für mich die beste Kunsthochschule überhaupt. Design-Report: Aber wieso war die Malerei tabuisiert? Mavignier: Die Neigung zur Sachlichkeit verlangte, gewisse visuelle Probleme ernsthaft zu behandeln, konkret anzugehen und vor allem keinen Okkultismus zu betreiben. Design-Report: Können Sie das näher erläutern? Mavignier: Wir hatten beispielsweise in den Kursen von Josef Albers Untersuchungen zur Beziehung von Raum und Farbe angestellt. Analysen zu Wahrnehmungsproblemen. Auch in den Übungen von Walter Peterhans war der Raum die zentrale Kategorie. Ich will damit sagen, daß die Grundlagen der bildenden Kunst in Ulm immer präsent waren. Sie waren auf einer sehr analytischen Ebene immer Thema. Ich interpretiere die Tabuisierung der Malerei als Ablösungsprozesse. Wie jedes Kind, das erwachsen wird, so mußte sich Ulm von seinen Eltern - dem Bauhaus - lösen. Das Verhältnis von Ulm zum Bauhaus war sehr ambivalent, denn andererseits waren wir sehr stolz auf die Bauhaus-Tradition. So hat es uns beispielsweise sehr beunruhigt, daß in Ulm kein Japaner war, weil wir gehört hatten, da es am Bauhaus immer einen Japaner gegeben hatte. Wir waren dann sehr glücklich, als der erste Japaner, Kawai, nach Ulm kam. Im Grunde war es für mich kein großes Problem, daß es in Ulm keine Malerei gab, denn die Grundlagen waren mir stets geläufig. Außerdem*. wußte jeder, daß Bill ein Maler ist. Und auch Maldonado. Er war als Maler der Hauptvertreter der Konkreten Kunst in Argentinien. Bill sagte: »Kunst steht nicht auf unserem Programm, wenn aber heute irgendwo aktuelle Kunst gemacht wird, dann wird sie bei uns in Ulm gemacht.« Design-Report: Welche Kunst wurde in Ulm gemacht? Mavignier: Keineswegs ausschließlich Konkrete. Josef Albers beschäftigte sich mit optischen Problemen. Dies war der Anfang einer Malerei, die mehr mit Wahrnehmungsphänomenen zu tun hatte, als mit Mathematik. Ich gehöre zu einer Generation, die sich zwischen konkreter und optischer Malerei bewegt. In Ulm gab es beide Richtungen. Aber noch etwas war sehr wichtig: die Reflexion über Kunst. Max Bense vermittelte in Ulm eine neue Theorie der Asthetik. Design-Report: Gab es ein Primat der Theorie in Ulm? Mavignier: Nun, Theorie war wichtig. Max Bense war in der ersten Phase von Ulm sehr wichtig. Er hat uns zum Denken gebracht. Seine Informationstheorie fundierte er mit Beispielen aus der Kunst. Bense sprach sehr viel über Kunst, über Malerei. Immer, ständig. Zu einem Bild von Bill, einem weißen Quadrat in einem Rasterfeld von schwarzen Quadraten auf einem grauen Hintergrund, der das weiße Quadrat hervorhebt, sagte Bense: »Das ist ein Kunstwerk mit einer ganz wichtigen Innovation, nämlich dem höchsten Informationswert eines Quadrates.« Dann sagte Bense weiter: »Wenn die höchste Information eines Quadrats ein Kunstwerk macht, dann kann auch die höchste Deformation eines Quadrats ein Kunstwerk sein. Aber das überlasse ich euch Malern.« Da sagte ich: »Aha!« und nahm Bense mit zu mir und zeigte ihm dieses violette Bild. »Da ist es!« »Aber das ist kein Quadrat«, erwiderte Bense. Nun, das war der Unterschied, ich wollte ja auch kein Quadrat. Aber die Deformation war schon da. Es gibt mehrere Bilder von mir, in denen eben diese Deformationen bewußt eingesetzt wurden. Bense hatte einen direkten Einfluß auf meine Bilder und meine Plakate. Design-Report: Gab es andere Einflüsse? Einflüsse der damals aktuellen Kunstströmungen? Mavignier: Ja. Die Dinge, die ich in Ulm in der Grundlehre lernte, verbanden sich mit der »Op-Art«, so daß ich einer der ersten Maler in Deutschland war, der sich mit Wahrnehmungsphänomenen in seinen Bildern auseinandergesetzt hat. Aber das war auch kein Kunststück für jemand, der 1953 mit Josef Albers arbeitete. Als die Amerikaner 1965 in New York mit der Op-Art kamen, war das für uns Ulmer ein alter Hut, weil die erste sogenannte OpArt-Ausstellung bereits 1961 in Zagreb unter dem Titel »Neue Tendenzen« stattfand. Zu der Beziehung der HfG Ulm zu dieser durchaus aktuellen Kunstströmung ist zu sagen, daß diese Ausstellung damals von mir mitorganisiert worden ist: Idee, Titel sowie Ausstellungsgestaltung. Später bin ich von Heinz Mack und Otto Piene zur Gruppe ZERO eingeladen worden, noch bevor Günther Uecker zur Gruppe stieß. Ich nahm an der Abendausstellung in Düsseldorf teil. Ich gehörte zu ZERO. Von der ersten Stunde an, und zwar durch Ulm. Design-Report: Da müssen doch auch gewisse Differenzen gewesen sein? Mavignier: Ja, klar. Was Mack und Piene etwas geärgert hat, war meine Neigung zur Reflexion und Konstruktion. Beide hatten sich früher einer sehr intuitiven Art zu malen bedient. Rationale Konzepte waren Mack und Piene fremd. Design-Report: Waren diese rationalen Konzepte in der Malerei damals in der Bundesrepublik nicht relativ isoliert? Mavignier: Nun, ich kannte Willi Baumeister. Er kam ja vom Konstruktivismus her. Oder Vordemberge-Gildewart. Und es gab doch El Lissitzky in Hannover, es gab... Design-Report: Aber das war doch in den zwanziger Jahren. Zu anderen Gruppen experimenteller Ausrichtung, Cobra etwa, gab es gar keine Verbindungen? Mavignier: Nein, das war unmöglich. Cobra war uns sehr fremd, noch schlimmer als die Tachisten! Die . Tachisten waren wenigstens nicht mehr naturalistisch. Cobra, das war Therapiekunst. Design-Report: Würden Sie das heute auch noch so sehen? Mavignier: Aber natürlich. Der Unterschied zwischen Therapie und Kunst ist die Reflexion. Und Cobra reflektierte nicht, sondern projizierte Dämonen. Design-Report: Und Ulm produzierte Ordnungsmuster. Mavignier: Ja, wir waren gegen Intuition und für Rationalität. Aber rationale Konzepte waren keineswegs auf Ulm beschränkt. Die rationale Kunst war auch in Brasilien sehr erfolgreich. Es gibt eine große Neigung der Brasilianer zu einer Malerei mit einer sogenannten konkreten Ordnung. Diese Neigung ist ja schon auf unsere Flagge eingeschrieben. Da steht nämlich: »Ordnung und Fortschritt«. Wir Brasilianer haben eine konkrete Kunst und Literatur hervorgebracht, die in Europa ihresgleichen sucht. Design-Report: Ist nicht auch die Stadt Brasilia ein großes System perfekter Ordnung? Nein es ist nicht die Perfektion, die für Brasilia charakteristisch ist. Brasila ist wie Bense sagt, ein künstliches, ein intelligentes System Ein Selforganising System schreibt Bense. Sehen Sie, es gibt in Brasilia keine Straßenkreuzungen und keine Ampeln. Viele Kritiker schließen daraus Brasilia sei fußgängerfeindlich und nur für den Autofahrer konzipiert. Das ist Unsinn denn Verhehrsunfelle geschehen überall auch in Brasilia. Es gibt dort dennoch eine Lösung, die Menschen schützt und die in Europa kaum gewürdigt wurde: An bestimmten Stellen sind kleine Hügel auf den Fahrbahnen Schwellen, die zum Langsamfahren zwingen. Das nenne ich durchdacht. Und stellen Sie sich von Brasilia ist eine Stadt ohne Verkehrspolizisten und funktioniert! Ist das nicht wunderbar? Design-Report: Fraglos ist Brasilia ein durchdachtes Ordnungssystem. Nun wurde aber wiederholt eingewandt, daß dieses Ordnungssystem bestehende Ordnungen lediglich bestätigt hat. So hat die Militärdiktatur die Hauptstadt Brasilia zur Selbstdarstellung perfekt nutzen können. Brasilia wurde zur Kulisse beängstigender Machtdemonstrationen. Mavignier: Architektur ist leider auf verschiedene Weise nutzbar. Es gibt einen interessanten Spruch von Mario Pendrosa. Er sagt: »Das Chaos rettet Brasilien, weil sogar die Diktatur chaotisch wird« verschlampt wird. Design-Report': Und was sagen Sie zu dem Einwand, die Ordnung Brasilias sei oft lediglich formal begründet? Mavignier: Der Vorwurf könnte aus Ulm kommen. In Ulm konnte man über Niemeyer nicht sprechen. Reiner Formalismus, hieß es dann. Brasilia, die schöne Stadt, deren Architektur sich über den Funktionalismus hinwegsetzt, war kein Thema. Design-Report: Warum konnte man in Ulm nicht über Brasilia sprechen? Mavignier: Das war vielleicht ein bisschen so wie mit der Malerei. Eine schöne Sache, die »keine Funktion« aufweisen kann. |